Die "Liller Kriegszeitung" 1914/15

 

Brief aus einem Feldlazarett

Von Stabsarzt Dr. W.

Man macht sich in der Heimat häufig eine ganz falsche Vorstellung von einem Feldlazarett. Man sieht im Geiste Pfleger in einem wohleingerichteten Krankenhaus walten und die Verwundeten in weissen Betten liegen. Der Schreiber dieses konnte sich oft davon überzeugen, wie erstaunt selbst Offiziere darüber waren, zu hören, dass die Feldlazarette keine Bettstellen mitführen, sondern nur die leeren Strohsäcke. Freilich liessen sie sich bald belehren, wenn man ihnen die Gegenfrage stellte, wie sie sich wohl den Transport von 200 Bettstellen - für soviel Verwundete ist ein Feldlazarett zumeist eingerichtet - ausmalen. Denn das Feldlazarett ist eine mobile Formation, genau so wie die Sanitäts-Kompagnie. Beide müssen der fechtenden Truppe, meist im Verbände der Gefechtsstaffel, unmittelbar folgen, alle Anstrengungen und Entbehrungen mit ihr teilen, immer zum Weitermarsch bereit sein. Dazu gehört, dass der Wagentross auf das unumgänglich notwendige Mass beschränkt wird. Das Personal eines Feldlazaretts besteht aus 6 Ärzten, 1 Oberapotheker, 2 Feldlazarett-Inspektoren und 51 Mann, die sich aus dem Sanitätspersonal und den Trainfahrern zusammensetzen. Die Zahl der Wagen beträgt 11, die der Pferde 31. Was es heisst, in einem elenden Bauerndorfe, dessen Einrichtungen jeder Hygiene Hohn sprechen und das von den Einwohnern verlassen ist, die nicht nur ihren Hausrat, Betten und sonstige Möbel mitgenommen, sondern auch noch alles, was dem Feinde nützen könnte, wie die Brunnen, unbrauchbar gemacht haben, allein aus dem Inhalt der Wagen ein Lazarett einzurichten, davon kann sich der Fernstehende nur schwer einen Begriff machen. Und dass diese Arbeit in den Zeiten des Bewegungskrieges auch auf dem westlichen Kriegsschauplatze häufig genug geleistet werden musste, weil nicht überall ein Chateau vorhanden war, steht fest, und wenn unserer braven Verwundeten auch unter solchen Verhältnissen in den Feldlazaretten stets ein Unterkommen wartete, das zum mindesten billigen Anforderungen genügte, so stellt das den Chefärzten ein glänzendes Zeugnis aus.
Ist vom Korpsarzt der Befehl zur Errichtung des Feldlazaretts gegeben, so sucht der Chefarzt zunächst die notwendigen Gebäude aus und trifft seine Anordnungen über die Verwendung der Räumlichkeiten. Ausser dem Chefarzt, einem Sanitätsoffizier im Range eines Oberstabsarztes oder auch eines ältern Stabsarztes, dessen Tätigkeit hauptsächlich eine verwaltende ist, befindet sich bei jedem Feldlazarett ein zweiter Stabsarzt, der chirurgisch ausgebildet ist. Dieser übernimmt nun sofort die Einrichtung des ihm überwiesenen Operations- und Verbinderaumes, der meist auch gleichzeitig als Sterilisierraum dienen muss. Der Oberapotheker richtet mit seinem Gehilfen die Apotheke ein, einer der Feldlazarett-Inspektoren das Geschäfts- und Aufnahmezimmer, der andere Inspektor übernimmt die Küche. In aller Eile werden die häufig recht verschmutzten Räume ausgefegt und gründlich gelüftet, dann folgt das Stopfen der Strohsäcke mit requiriertem Stroh, soweit nicht bei dem Mangel an Zeit und der Aussicht auf baldiges Wiederabrücken überhaupt auf das Stopfen der Strohsäcke verzichtet und ein Lagern der Verwundeten gleich auf Stroh bevorzugt wird. Warten doch häufig genug, schon während das gesamte Lazarettpersonal noch alle Hände voll mit dem Einrichten des Lazaretts zu tun hat, zahlreiche stöhnende Verwundete auf ihre Versorgung, und die Zahl vermehrt sich, von den Krankenträgern eiligst herbeigeschafft, zusehends. Gerade in der ersten Zeit des schnellen Vorrückens unserer unvergleichlichen Truppen in Frankreich war es häufig so, dass die Sanitäts-Kompagnie der Truppe sehr bald nachrücken musste, um sie nicht zu verlieren, und dass nun die Feldlazarette den Dienst des Hauptverbandplatzes mit versehen mussten, so dass ein geordneter Lazarettbetrieb häufig genug ein frommer Wunsch blieb. So galt es denn in den ersten Stunden oft eine übergrosse Arbeit für Ärzte und Unterpersonal zu leisten, doch wie überall, so liess auch hier das deutsche Pflichtgefühl jede Schwierigkeit spielend über-winden.
Während des Bewegungskrieges wird es kaum ein Feldlazarett des XIX. A.K. - die Verhältnisse bei ändern Korps werden wohl ähnlich gelegen haben - gegeben haben, das länger als vierzehn Tage an einem Ort aufgestellt war, die meisten mussten aber schon nach viel kürzerer Zeit wieder abbrechen, um den Anschluss an das Korps nicht völlig zu verlieren. Oft mussten in wenigen Stunden alle Vorbereitungen zum schleunigen Wiederaufbruch beendet sein. Dass auch hier jeder Mann auf seinem Posten sein musste, sollte die Sache klappen, das bedarf wohl keines besondern Hinweises.
Jetzt, wo der Stellungskrieg sich nun schon monatelang hinzieht, ist eine grössere Stetigkeit auch in den Betrieb der Feldlazarette eingezogen. Unser Feldlazarett ist seit 22. Oktober 1914 in einem Kloster nordwestlich Lilie eingerichtet, das wegen seiner grossen hellen Räumlichkeiten, die im Frieden als Schulzimmer für die Klosterzöglinge dienten, für Lazarettzwecke sich besonders eignet.
Durch eine grosse Toreinfahrt gelangen die Verwundeten in den Warteraum, der zugleich als Vorraum für den zu ebener Erde rechts von der Voreinfahrt gelegenen Operationsraum dient. Dieser erhält das für Operationen so notwendige Licht durch zwei hohe, nach der Strasse zu gelegene Fenster. Rings an den Wänden sind auf langen Tischen die notwendigen Vorräte an Arzneien und Verbandmitteln, auf einem Tisch am Fenster die Instrumente, soweit sie stets zur Hand sein müssen, ausgebreitet. Im Hintergrunde des mit Steinfliesen ausgelegten Raumes steht in einer Ecke der Sterilisierapparat. An der gegenüberliegenden Wand haben die Waschbecken zum Reinigen der Hände Aufstellung gefunden. Die Mitte des genügend grossen Raumes wird von dem aus zwei schmalen langen Tischen hergestellten Operationstisch eingenommen, dessen Anblick vielleicht manchem verwöhnten Chirurgen aus der Heimat ein mitleidiges Lächeln entlocken würde, der aber seinen Zweck vollkommen erfüllt, und dessen einfache Beschaffenheit sicher keinem aus der grossen Zahl Schwerverwundeter je zum Nachteil gereicht hat. An den Warteraum schliessen sich auf der ändern Seite die Krankensäle für Frischoperierte an, die teilweise mit requirierten eisernen Bettstellen mit Sprungfedermatratzen versehen sind, teilweise auch schon selbstgezimmerte Holzbetten einfachster Art aufweisen, wo auf quergenagelte Holzbretter der gefüllte Strohsack zu liegen kommt, und die auf den ändern Krankensälen ausschliesslich Verwendung finden müssen. Erwähnt sei ausdrücklich, dass die Verwundeten mit ihrem Lager in den einfachen Betten sehr zufrieden sind. Insgesamt hat das Lazarett sechs grosse Säle des Klosters mit Betten belegt. Dazu kommen noch die Räume in drei Nachbarhäusern, die der Chefarzt ebenfalls für Verwundete mit Beschlag belegt hat. Der durchschnittliche Bestand des Lazaretts an Verwundeten beträgt 150. Grossen Vorteil zieht das Lazarett aus dem Vorhandensein der Nonnen, die bereitwilligst an der Versorgung der Verwundeten, wenn auch nur mittelbar, sich beteiligen. Nicht nur die gesamte Krankenwäsche wird von den Nonnen gewaschen, auch die Klosterküche samt Köchin wird zur Bereitung der Krankenkost gern überlassen, und eine in Paris in der Krankenpflege ausgebildete Nonne macht sich bei der Reinigung der Instrumente und bei sonstigen Handreichungen im Operationssaal nützlich.
Die meisten Verwundeten werden erst nachts ins Feldlazarett eingeliefert, da es tagsüber meist unmöglich ist, sie ungefährdet aus den Schützengräben zurückzubringen. Ein Hauptverbandplatz als Zwischenstation zwischen Truppe und Feldlazarett besteht hier nicht, weil er durch die Verhältnisse sich als überflüssig erweist. Dazu liegt das Feldlazarett zu weit vorn (etwa vier bis fünf Kilometer hinter unsern Schützengräben). Ohne Schwierigkeiten kann das Feldlazarett die Arbeit des Hauptverbandplatzes gleich selbst übernehmen. Das ist nur zum Vorteil der Verwundeten, weil sie auf diese Weise schneller in geordnete Lazarettpflege kommen. Man muss das glückselige Schmunzeln in den Zügen der Verwundeten gesehen haben, wenn sie aus dem Morast des Schützengrabens in ein frisch bezogenes Bett zu liegen kommen. So gut haben sie meist seit den Tagen der sorglosen Kinderzeit nicht wieder geschlafen, wie in dieser ersten Nacht im Lazarett. Freilich, ganz sicher sind sie im Feldlazarett nicht, denn auch hier gibt der Feind von Zeit zu Zeit seine Karte in Gestalt einer explodierenden Granate ab.

 

Die "Liller Kriegszeitung" 1914-1917

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