Die "Liller Kriegszeitung" 1914/15

 

Was man in französischen Kasernen findet

Indem ich diese Überschrift niederschreibe, fährt es mir durch den Sinn, dass mich im Augenblick eigentlich das Kasernenthema gerade von dieser Seite am wenigsten interessiert. Denn morgen Mittag soll ich mit meiner Landsturm-Kompagnie gleich von der Wache weg in so eine französische Kaserne Einzug halten, und da haben wir uns schon eine gute Woche lang über all das geärgert, was man dort nicht findet. Es ist recht, recht viel, aber es lässt sich schliesslich kurz zusammenfassen: Sauberkeit und Ordnung und alles das, was aus diesen beiden erwächst, und was dazu dient, sie aufrecht zu erhalten - alles das findet man dort nicht!
Was man aber findet, an dauernder Einrichtung und zufälliger Hinterlassenschaft, ist für uns alle lehrreich genug, um etwas schärfer ins Auge gefasst zu werden. Wir begegnen überall den Zeugnissen einer sehr ernsten patriotischen und militärischen Arbeit, die ganz deutlich auf ein festes Ziel eingestellt ist. Da finden wir eine ganze Reihe von Handbüchern: vom Umfang weniger Bogen bis zu dickleibigen Werken von 600-1000 engbedruckten Seiten, in welchen die Vorbereitung der Jugend für die Soldatenzeit, die Ausbildung des Soldaten, die Fortbildung der Unteroffiziere höchst eindringlich behandelt wird. Dass das Ziel dieser Ausbildung nicht einfach die militärische Ertüchtigung der vielfach zum Wohlleben neigenden Nation, sondern der Krieg, ein ganz bestimmter Krieg ist, tritt deutlich zu Tage: farbige Abbildungen aller Waffengattungen der deutschen Armee, und nur dieser allein, weisen darauf hin, und dutzendfache Gelegenheitsergüsse in Wort und Bild, mit Bleistift und Kreide bezeugen, dass die Erziehung in dieser Richtung gut eingeschlagen ist. Gestärkt wird der Geist des trotzigen Stolzes und der Zuversicht durch die Pflege der kriegerischen Erinnerungen: die Republik von heute ist im Kultus des kriegerischen Ruhms von Frankreich allen vorausgegangenen Regierungsformen überlegen, einerlei, ob es sich hier um die Feldherren und um die Siege des französischen Heeres unter dem Königtum, dem Kaisertum oder der Demokratie handelt. Boufflers, Vauban und Turenne sind dem französischen Soldaten ebenso vertraut, wie Kleber, der Strassburger, oder Vandamme, der Sohn des französischen Flanderns, oder Faidherbe und Chanzy. Auf der Ruhmestafel des 43. Linienregiments auf der Zitadelle von Lille, die als Geburtsjahr 1638 nennt, ließt man als die beiden ersten Oberst-Inhaber den Cardinal Richelieu und den Cardinal Mazarin - in der Wachtstube der Kleber-Kaserne liegt als einzige Lektüre die prächtig ausgestattete hundertjährige Geschichte des 19. Regiments Jäger zu Pferde (1792 bis 1892) aus.
Überblickt man das gedruckte Verzeichnis der Vorträge, welche im Winter 1913 auf 1914 für die Offiziere und passend abgestuft für die Unteroffiziere auf der Zitadelle gehalten worden sind, so tritt die ebenso bewusste wie gewissenhafte Vorbereitung auf den Krieg mit Deutschland überall zu Tage: hier sind alle Stoffe aktuell, die Kriegsgeschichte scheidet vollständig aus. Gegenstände wie das Zusammenwirken von Artillerie und Infanterie, die Rolle der Feldbefestigungen in der modernen Schlacht stehen im Vordergrund. Kartenmaterial, besonders für Lothringen und die Vogesen, fand sich ein ganzer Pack vor: er war offenbar nicht zur Verteilung gelangt, da das erste französische Armeekorps (wenn es überhaupt jemals für die Verteidigung der französischen Westfront bestimmt gewesen sein sollte, worauf die Karten doch hinweisen), durch die Gestaltung des Kriegsbeginns andere Aufgaben erhielt. Französische Karten von Nordfrankreich habe ich unter dem Wust, den man dort zusammengestellt hatte, nicht gefunden, wohl aber wurde auf einer Offizierstube eine solche Karte - mit Lille als Mittelpunkt - gefunden, die in der Druckerei des englischen Generalstabs "Southampton 1912" hergestellt, und natürlich "only for official use" ("nur für amtlichen Gebrauch") bestimmt war: ob für Franzosen oder für Engländer, das war offenbar schon 1912 ganz gleichgültig; die weniger beschäftigte topographische Abteilung des englischen Generalstab unterstützte die mit dringender Arbeit überhäufte französische Schwesteranstalt !
An den Wänden der Kasernen, besonders der Kaserne Vandamme, haben sich Witzbolde der Kompagnie, die zeichnerischen Talente - und die Schreier und Prahlhänse vielfach betätigt: vor dem Kriege und nach seinem Ausbruch. Geschmacklose und gemeine Karikaturen unseres Kaisers, aus schlechten Witzblättern kopierte Darstellungen, alles mit kindischen Unterschriften, sind an der Tagesordnung - der säubernde Kalkbesen unserer Landsturmmänner hat diese Erzeugnisse eines früh genug gebrochenen Übermutes vernichtet. Auch eines der bei unsern Gegnern sehr beliebten Zukunftsbilder haben wir gefunden. In breitem, flottem Wurf zierte "eine Karte Europas" avant la guerre, und eine solche "apres la guerre" die beiden Wandhälften: nach dem Kriege gibt es nur noch ein ganz kleines, vom Meer abgeschnittenes Deutschland im oberen Wesergebiet! Italien, auf das dieser Prophet also fest gerechnet hatte, reicht bis Böhmen und grenzt hier an den Grossstaat Serbien. Belgien ist (wohl friedlich?) in Frankreich aufgegangen, während Holland eine nicht unbeträchtliche Ausdehnung an der Nordsee zugestanden wird. Durch Sachsen und Franken hindurch aber drückt Russland kräftig die Bruderhand dem französischen Bundesgenossen, der sich mit dem Westen und Südwesten Deutschlands begnügt.
Es war gewiss kein Staatsmann und kein Feldherr, der auf einer französischen Mannschaftsstube vor dem Beginn des Krieges dies Zukunftsbild entwarf: aber bis zu welcher tollen Verwirrung man die Phantasie des gemeinen Soldaten erhitzt hatte, dafür darf dies Kartenbild immerhin als Zeugnis gelten, an dem die Offiziere der Kompagnie mit wohlgefälligem Schmunzeln vorübergegangen sein mögen.
In deutschen Gefangenen-Lagern haben jetzt Franzosen und Russen reichlich Gelegenheit, sich die Bruderhand zu drücken - ich glaube nicht, dass sie davon begeistert Gebrauch machen werden.

Hauptmann Schröder

 

Die "Liller Kriegszeitung" 1914-1917

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